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Portrait auf Distanz

  • Eigentlich geht es nur um Wasser in seinen verschiedenen Aggregatszuständen, als Eis, flüssiger Stoff, weites Meer, durchsichtiges Element, Dunststreifen am Himmel, glänzende Oberfläche, unergründliche Tiefe, weißer Schnee... Manchmal spielt auch noch die rohe Erde hinein, eine dunklere Färbung im Bild, halb in Schatten getaucht. Aus der Nähe betrachtet liegt sie wie ein verbrauchtes Schotterfeld da, in der Ferne wirkt sie wie felsiges Bergmassiv, die unveränderliche geografische Bedingung, in der Schnee und Eis eine Art Bewegung nachzeichnen, den Lauf eines Stroms, das Abfliessen vom Hang ins Tal, durch Spalten und Schluchten, in feinen Linien und breiten Kurven, aber all das ist regungslos, erstarrt, steht still.
  • Die Fotos von Ivo Kocherscheidt ziehen den Himmel mit in dieses Bild der unbeweglichen Zeit. Auf dem Spiegel des Meeres vermischen Luft und Wolken sich mit den bizarren Formen der Eislandschaft, die im dunkler werdenden Element ihren Halt verliert und in der Tiefe verschwindet. Das Panorama der schwimmenden Eisbrocken erinnert bisweilen an den Blick aus dem Flugzeug, ganz knapp über der Wolkendecke. Unten auf dem Wasser ist sie nicht so weich und verspielt, aber ähnlich rätselhaft anziehend, unbegreiflich, eine Art Wunder und ebenso beänstigend unvertraut, unbegehbar. Das flache Format bringt die Wahrnehmung dennoch in Bewegung, läßt sie über den Horizont streifen. Der Blick will dem folgen, was sich da ausdehnt und kein Ende nimmt. Er findet keinen Rückhalt, geht ins Leere und hat schließlich Antworten in einer Sprache, die den Worten nur ihre kurze Reichweite erklärt.
  • Ivo Kocherscheidt war in dieser Küstenlandschaft an der Baffin-Bay, um im Meer den Narwal aufzuspüren. Mit Unterwasseraufnahmen hat er sich seit Jahren beschäftigt, hat Bilder von den klassischen Gefahren wie etwa dem Hai eingefangen, oder von solchen, die kein modernes Bild haben, denn wer würde meinen, dass Kraken bzw. Kalmare eine tödliche Bedrohung für Taucher darstellen; das wird heute eher dem Seemannsgarn zugeschrieben. Den Narwal vors Objekt zu bekommen, ist – von Seiten des Tieres – keine gefährliche Angelegenheit, aber nahezu unmöglich. Umso gefährlicher sind die äußeren Bedingungen. In dieser Landschaft warten ganz andere Spannungen, kaum zu unterscheiden vom Unsichtbaren und der Stille ... wenn etwa eine Eisscholle langsam in Bewegung kommt, eine Eisscholle, deren Dimensionen ohnehin außerhalb des Blicks liegen; unbemerkt nimmt sie ihre Besucher dorthin mit, wo auch der Funkkontakt abreissen wird.
  • Zweimal war Ivo Kocherscheidt für mehrere Wochen im Norden. Den Wal mit dem legendären Einhorn hat er nur in der Größe einer Kaulquappe im Bild festhalten können. Also begann er, die Landschaft zu fotografieren, eine Art Angebot, sich ohne eigene Forderung auf die unbekannten Bedingungen einzulassen. Das ursprüngliche Ziel seiner Reise taucht einstweilen irgendwo in der Tiefe unter diesen Bildern entlang. Es entfernt sich, sobald ein Geräusch die Wasseroberfläche durchbricht und seinen Lebenskreis stört. Insofern können diese Aufnahmen bis zu einem gewissen Grad als ein Portrait des Tieres angesehen werden, das sich den Gegenstand aus derselben Distanz anschaut wie der Fotograf, nur von der anderen Seite.

ROBERTO OHRT, 2012